Der Reiz fremder Wohnzimmer

Blick hinter die Kulissen: beim jährlichen Tag der Architektur gibt es Führungen zu besonderen Bauwerken – ob privat, gewerblich oder kulturell.

von Frederike Poggel, Stuttgarter Zeitung vom 04.07.2011

 

Schaffe, schaffe, Häusle baue – diese Attitüde wird dem Schwaben gemeinhin nachgesagt. Was er aber alles dabei so auf die Grundmauern stellt, gleicht einander mitnichten wie ein Ei dem anderen: mal leben mehrere Generationen wie im Cannstatter Cann zusammen, mal gehen Wohnen und Arbeiten ineinander über. Architekten müssen viele Ansprüche unter einem Dach zusammenbringen.

 

Es gibt Orte, an denen das besonders gelungen scheint. Zu eben jenen haben die Architektenkammern Interessierte am Samstag kostenlos geführt. Der Tag der Architektur ist fast eine kleine Tradition: Zum 16. Mal fand er in Baden-Württemberg statt, und landesweit haben sich nach Angaben der hiesigen Kammer 2700 Menschen durch energieneutrale Passivhäuser und fremde Designerlofts geschlängelt. Allein in Stuttgart wird die Zahl der Teilnehmer auf rund 300 geschätzt, die per Bus auf fünf verschiedenen Routen durch die Landeshauptstadt gefahren sind – sofern der erwartete Bus denn auch kam.

 

„Ich finde es wahnsinnig mutig, so etwas hier an die Kreuzung zu setzen“, sagt Martina Geissler, die vor der Galerie ABTart an der Möhringer Rembrandtstraße, der ersten Station der Tour „Stuttgart-Süd“, auf den Bus wartet. Geissler ist Kunstlehrerin am Vaihinger Hegel-Gymnasium, ihr Interesse an der Rundfahrt, die später noch zu einem Wohnhaus in Kemnat und einem Verlagshaus in der Stadtmitte führen soll, also auch ein wenig beruflich bedingt.

Was sie und die anderen Grüppchen, die vor der Galerie auf den Bus warten, erst mit einiger Verspätung erfahren: die Route wurde kurzfristig umgekehrt und die Galerie ABTart zum letzten der drei Ziele gemacht. Davon lassen sich Freunde besonderer Bauten, zu denen sich wohl auch Ralf Krüger zählen würde, aber nicht beeindrucken. Er schließt sich kurzer Hand einer Fahrgemeinschaft an – und fährt dem Bus hinterher. „Man nimmt vieles mit, was man nicht wusste. Die Architekten erklären aus ihrer Sicht, welche Probleme es zu bewältigen gilt oder was man bei einem Umbau alles berücksichtigen muss., erklärt Krüger, warum er aus rein privatem Interesse schon zum dritten Mal beim Tag der Architektur dabei ist. „Man hat Zutritt zu Privathäusern, die bewohnt und überhaupt nicht museal sind“, erläutert die Kunstlehrerin Martina Geissler ihre Motivation.

Beiden hat es die Galerie ABTart besonders angetan. Die schwere, wuchtige Klinkerfassade lässt kaum den luftigen Innenraum erwarten, der mit seinen raumhohen Fenstern und den gläsernen Flächen im Boden, die vom einen Stockwerk zum nächsten schauen lassen, ganz licht wirkt.

 

Während die rund 50 Teilnehmer der Tour Süd noch die Sichtachsen nachvollziehen, drängen sich einen Steinwurf von der Galerie entfernt Dutzende ins topmoderne, mehr als vier Meter hohe Wohnzimmer sowie ins Schlafzimmer von Brigitte und Hermann Krautter. Seit Mai bewohnt das Ehepaar sein schickes Loft im ehemaligen Verwaltungsgebäude des Seifenherstellers Speick, der auf dem Areal in Möhringen einst seine Laugen anrührte – lange nachdem im 19. Jahrhundert eine Brauerei an der Sigmaringer Straße stand.

Aus jenen Tagen stammt noch ein Teil der Bausubstanz, die aber zu oft verändert und daher nicht denkmalgeschützt ist. Für die letzte große Veränderung zeichnet unter anderen der Architekt Markus Höninger verantwortlich. Er hat aus dem Speick-Areal eine Wohnanlage mit schnieken, offenen Wohnungen, kleinen Apartments und akkurat gezogenen Grünflächen gemacht, ohne – wie viele Mitbewerber es bei der Ausschreibung vorgeschlagen hatten – alles abzureißen.

So musste er sich dem Problem der 4,25 Meter hohen Decken im alten Verwaltungstrakt, dem heutigen Wohnzimmer der Krautters, stellen; sie sind zu hoch für ein, aber zu niedrig für zwei Stockwerke. Was tun? „ Wir haben eine Galerie eingezogen“, sagt Höninger und zeigt auf das balkonartige Zwischengeschoss, wo die Bewohner sich eine Sitzecke eingerichtet haben. Geduldig lassen die Kautters die Fremden passieren, ernten Anerkennung für ihr Loft – aber sind vielleicht auch froh, dass so ein Ansturm eher die Ausnahme ist. Denn beim Tag der Architektur werden immer andere Objekte gezeigt; so auch im kommenden Jahr, bei der 17. Auflage.